Pleinair – Pastös – Pompös

von Nadine Schober

Kultur und Leben 

Als die Modellregionen im Frühjahr 2021 nach langer coronabedingter Kulturdiät ein erstes Urlaubsvergnügen nach dem Lockdown versprechen, buche auch ich für meine Familie kurzerhand ein verlängertes Wochenende am Ostseefjord Schlei im Kreis Schleswig-Flensburg. Kurz darauf zeigen diverse Statusmeldungen aus dem Bekannten- und Kolleg:innenkreis, dass wir wohl keinesfalls allein dort sein würden. Die weite Anfahrt und das tägliche Testen nehmen wir gern in Kauf, um die regional ermüdeten Augen endlich wieder über frische Panoramen schweifen zu lassen, Seeluft zu schnuppern und Museen und Gastronomie ausgiebig zu beanspruchen. So landen wir auch unweigerlich in den Schleswig-Holsteinischen Landesmuseen auf Schloss Gottorf und buchen sofort das volle Programm.

Bei unserer ersten Station in der Reithalle des Schlosses prallen uns ganz unerwartet monumentale Farbkulissen entgegen und entführen uns unter massivem Materialeinsatz nach Helgoland, Berlin, Island und in die Toskana. Moderner Impressionismus wölbt sich uns dort entgegen aus der Hand von Meister Lehmpfuhl. Ich bin beeindruckt. Wer ist dieser Mensch, der das erschaffen kann? Christopher Lehmpfuhl, Jahrgang 1972, verwurzelt in Berlin mit einem Arbeitsplatz unter freiem Himmel (en plein air) schöpft aus dem Vollen. Er trägt die Ölfarbe direkt aus dem Eimer mit den Fingern oder gleich der ganzen Hand auf die Leinwand, modelliert seine Werke – das haptische Erleben als kreativer Prozess. Bis zu 50 Kilogramm Farbschichten können es bei einem seiner Großformate schon werden. Mehrere Monate bis zu einem Jahr dauert es, ehe die dicken Farbreliefs durchgetrocknet sind. Dabei verirren sich in seine Landschaftsskulpturen auch gern mal eine Feder, ein Sandkorn, ein winziges Stück Holz als ‚greifbarer Zeuge' des Entstehungsortes. Verlockend ist der Reiz, mit eigenen Fingern die Rillen entlangzufahren im buntgesprenkelten Pastengebirge. Genau das denkt sich meine kleine Tochter und ist nur mit großer Mühe davon abzuhalten. Zu gern würde auch ich einmal bei einigen Werken des selbsterklärten malenden Bildhauers ‚Hand anlegen'. Seine nahezu dreidimensionalen Arbeiten können vollumfänglich ausschließlich im Original erlebt werden. Die Reliefs, die Höhen und Tiefen der dick geschichteten Oberflächen, die gesamte Stimmung in Farbe, Licht und Schatten – hier gilt Präsenzpflicht für den ganzheitlichen Kunstgenuss.

Freilichtmaler, denke ich mir, was für ein coronakonformer Arbeitsplatz: draußen an der frischen See- oder Gebirgsluft, bei Wind und Wetter allein mit Leinwand und Farbeimern, umgeben von atemberaubender Natur und ihren Gewalten ausgeliefert. Das ist in diesem Fall auch eine Art Extremsport: mit schwerem Marschgepäck zum Teil unwegsame und abgelegene Gegenden zu erkunden auf der Suche nach der perfekten Kulisse. Da hat am Ende der Künstler samt Kunstwerk ein Abenteuer bestanden.

Freilichtmaler auf Malreisen – das klingt aber auch nah dran am Traumberuf. Als Betrachterin möchte ich mich hineinstürzen in die Szenen, so durchdringend erscheinen die Farben, das Licht, die Tiefe, so anziehend die Orte: das goldene Licht in der Toskana, das sich über die Landschaft ergießt – fast meine ich die Sonne auf der Haut zu spüren.

In vollem Farbrausch trete ich hinaus in den mit Nebelregen verhangenen Dunst des Schlosshofes und wundere mich, ob die überschäumende Begeisterung wohl an der langen Phase der Kunstabstinenz liegen mag oder ich eben gerade meinen neuen Lieblingskünstler unter den Lebenden entdeckt habe. Ich werde ihn im Auge behalten und sein Schaffen verfolgen. Einer der nächsten Urlaube wird dann wohl Berlin streifen oder auch die Toskana. Mit etwas Glück begegne ich dort einem vollgeklecksten Typen, der eine mit Farbkübeln beladene Sackkarre hinter sich herzieht … und folge ihm unauffällig.

Nadine Schober

Nadine Schober nahm über das Haldern-Pop-Festival 2006 Fühlung mit der Region auf. Zwei Jahre später startete sie nach ihrem Studium in Hamburg ihr Volontariat im Bocholter Textilmuseum. Nach gut einem Jahrzehnt hat sie dieses Fleckchen Erde zu schätzen gelernt. Vor allem Grenzregionen wecken das Interesse der Ethnologin. Die gebürtige Mecklenburgerin wagt dabei stets einen Blick über den Tellerrand. Ob Kulinarisches, sprachliche Eigenheiten oder Ökolandbau – ihre Interessen sind breit gefächert. Poetry Slam, Street Art und Flohmärkte lassen ihr Herz höherschlagen. Im kult Westmünsterland arbeitet sie im Archivteam des historischen Archivs und im Kreisarchiv Borken.

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