Kann das weg? Eine Detail-Betrachtung zur aktuellen Kabinettausstellung im kult

von Annette Menke

Museum und Forschen

Der Titel der aktuellen Kabinettausstellung im kult Westmünsterland lautet „Kann das weg“. Diese Frage will mit Bedacht beantwortet werden. Nehmen wir zum Beispiel einen „Einheitsverbandskasten“, der in der Ausstellung gezeigt wird. Der Kasten ist weder schön noch etwas Besonderes. Er ist nicht sehr alt, ist verrostet, es handelt sich um kein Einzelstück. Welchen Aussagewert hat dieses Stück also für die Sammlung im kult?

Das äußere Erscheinungsbild weist auf die Zeit um 1950 hin, die Aufschrift identifiziert das Objekt eindeutig: „Kraftwagen Einheitsverbandkasten der Berufsgenossenschaften“ ist dort deutlich auf weißem Grund zu lesen. Hersteller ist die Firma Lohmann, wie das dreieckige, rot-weiße Logo verrät. Von solchen Kästen gibt es sicher noch hunderte, also warum wurde dieser hier für die museale Sammlung (unter der Nummer HM-13-219) inventarisiert? Die Antwort findet sich im Innendeckel des Kastens: Auf dem gesetzlich vorgeschriebenen Inhaltsverzeichnis prangt gleich zweimal der blaue Stempel der Firma „H. & J. Huesker, Spinnereien – Webereien, Zweigwerk, 4426 Vreden, Postfach 6“.

Hier wird der regionale Bezug dieses Stückes deutlich. In diesem liegt der Wert des Verbandkasten für das westliche Münsterland. Die Firma Huesker war 1876 aus Gescher an die Ottensteiner Straße in Vreden gekommen. Die mechanische Weberei teilte das Schicksal vieler Textilbetriebe: Einem enormen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg wäre der Niedergang seit den 70er Jahren gefolgt, hätte man nicht schon frühzeitig auf einen Nischenmarkt gesetzt. Die Herstellung synthetischer Gewebe und die Produktion von Technischen Textilien wie Filterplanen und Deichsäcke wurden zum neuen Standbein des Unternehmens. Später folgte dann die Entwicklung von Geokunststoffen mit Mehrfachfunktionen. Ein Erfolgsrezept: Aus der Firma wie zahlreichen anderen münsterländischen Unternehmen wurde ein ‚Global Player‘.

Drei weitere große Themen beinhaltet der Verbandkasten aus unserem Depot, die hier nur angerissen werden können. Der wohl weitreichendste Aspekt betrifft die Prüfung und damit die Zulassung durch den Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften. Dies bietet Anknüpfungspunkte an größere Themen wie Unfallversicherung, Unfallverhütung, Hinterbliebenenfürsorge, kurz die ganze Historie der Bismarckschen Sozialpolitik.

Ist den gesetzlichen Vorgaben Genüge getan, stellt sich noch die Frage nach der Herstellung des Verbandsmaterials. Auch hier gibt das Objekt selbst Auskunft. Der Aufkleber auf dem Deckel und die Logos auf den einzelnen Verpackungen des Verbandmaterials benennen die Firma Lohmann, Neuwied, heute Lohmann & Rauscher als Hersteller. Den Grundstein für die Firma Lohmann wurde 1851 in Frankfurt am Main mit einer „Handlung in Material-Waaren“ durch Julius Lüscher gelegt. Um 1900 entstanden neue Fabrikanlagen in Fahr am Rhein (heute ein Stadtteil von Neuwied) mit rund 60 Beschäftigten. Dieses Werk wurde zum Stammsitz des neuen Unternehmens Lohmann.  Nach der Fusion mit der Firma Rauscher in Österreich entwickelte sich das Unternehmen zu einem der führenden Konzerne im Verbandmittel-Bereich mit mehr als 5.300 Mitarbeitern, 49 Konzerngesellschaften und Beteiligungen sowie mehr als 130 Partnern. 2019 erreichte L&R ein Umsatzvolumen von mehr als 670 Millionen Euro.

Jetzt kommt noch die Frage des Vertriebs: Auf welchem Weg kam der Verbandkasten aus der Produktion in Neuwied nach Vreden? Ein weiterer Name findet sich auf unserem Verbandkasten: Hugo Günther & Sohn GmbH, Bad Pyrmont ist in grüner Schrift unter dem Inhaltsverzeichnis im Deckel zu lesen. Dazu das Firmenlogo, ein großes G, das ein gleichschenkeliges Kreuz mit gespaltenen Enden umschlingt.

Leider haben wir keine weitere Information zu dieser Handelsvertretung, doch fand sich im Internet ein schönes Zeugnis zur Frage von Verkaufsstrategie und Kundenbetreuung in dieser Zeit. Stilvoll kündigte man sich mit einer Besuchskarte an – es kam ‚der Junior-Chef persönlich‘, doch blieb man dem Kunden gegenüber servil – ein Dienstleister eben! Und immerhin hatte die Firma ja einiges zu bieten.

„Unser Herr Hans Günther wird sich erlauben, Ihnen in den nächsten Tagen seinen Besuch zu machen. Bitte geben Sie ihm Gelegenheit zu einem persönlichen Fachgespräch. Für freundliche Aufnahme danken wir Ihnen. Mit verbindlicher Hochachtung
Hugo Günther & Sohn GmbH
Verbandstoff-Fabrikation, Krankenpflegeartikel, Einrichtungen neuzeitlicher Unfallstationen, Instrumente aller Disziplinen, Apparate und Geräte für Diagnostik, Licht-, Wärme- und Aerosol-Therapie, EKG und Röntgengeräte“

Die Karte ist im Mai 1963 verschickt worden und der Adressat war die Siegener A.-G., Eisenkonstruktion, Brückenbau und Verzinkerei in Geisweid. Eine eindrucksvolle Graphik eines Untersuchungszimmers ziert das Anschreiben und betont noch einmal den Zweck des Besuches: „Bei der Einrichtung Ihrer Unfallstation stellen wir Ihnen unverbindlich unsere reichen Erfahrungen zur Verfügung“.

All das zeigt: Dieser Kasten, so unscheinbar er auch zunächst wirkt, kann auf keinen Fall ‚weg‘. An vielen Objekten ist viel mehr dran, als auf den ersten Blick zu sehen und  ein Gegenstand mit so viel zeitgeschichtlichem Hintergrund gehört nicht in die Tonne, sondern eindeutig in die Vitrine – zumindest aber ins Museumsmagazin!

Annette Menke

„Bochum ich komm aus Dir“ und „… Stern des Südens“ sind die Pole, zwischen denen sich Annette Menke bewegt. Die promovierte Kunsthistorikerin ist seit über dreißig Jahren Museumsfrau mit Leib und Seele. Als Inklusionsbeauftragte kümmert sie sich außerdem um die Belange von Besucher:innen mit besonderen Bedürfnissen. Die Hobbyköchin liebt Musik, Bücher, Reisen und das Leben im Münsterland.

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