Der Seelen-Striptease im Bücherregal
von Flemming N. FeßKultur und Leben

„Man kann den Menschen nur vor den Kopf gucken“, lautet ein gängiges Sprichwort, wenn man sagen möchte, dass es eben unmöglich ist, die Gefühle und Gedanken anderer Menschen zu sehen. Das ist sicherlich – außer, Sie sind zufällig begabte/r Gedankenleser:in – absolut richtig. Was hinter der Fassade von erlerntem (oder nicht erlerntem) Benehmen und Verhalten liegt, bleibt uns verborgen: Werte und Gedankenwelt bleiben unsichtbar. Zugegeben, durch unsere Kleidungswahl, unseren Stil, geben wir Einblicke in unsere Individualität, aber auch Geschmack ist zu einem Stück weit erlernt und oft auch Attitüde.
Es gibt jedoch Gelegenheiten, bei denen wir, eher unbewusst, tiefe Einblicke in unser Innenleben preisgeben. Eine solche, so ist mir aufgefallen, sind unsere Bücherregale.
Ich liebe es, wenn ich irgendwo zu Gast bin, den Blick über die Bücherregale schweifen zu lassen (Voraussetzung ist natürlich, dass die Gastgeber:innen lesende Menschen sind). Sie verraten Details über das Innenleben ihrer Besitzer:innen, die diese unter Umständen selbst ihren engsten Vertrauten nicht mitteilen, und das auf gleich mehreren Ebenen:
Zuerst natürlich die offensichtliche Ebene der Inhalte. Damit meine ich nicht, ob hier nur sogenannte ‚Hochliteratur‘ zu finden ist. Vielmehr geht es darum, welche Genres die Person liest. Die Wahl der Themen, mit denen wir uns in unserer Freizeit befassen, sagt viel darüber aus, welche Sehnsüchte und Träume wir haben. Steht hier viel Romantisches? Besteht gar ein Hang zum Kitsch? Oder stehen hier eher phantastische Themen, die auf eine eskapistische Ader schließen lassen? Finden sich viele gesellschaftskritische, utopische oder dystopische Werke? Stehen hauptsächlich Sachbücher hier, die darauf schließen lassen, dass der/die Besitzer:in gar keinen Wunsch nach Realitätsflucht durch Literatur verspürt? Oder mag der/die Gastgeber:in vielleicht gerne detective stories (besteht also eine Leidenschaft für Deduktionen) oder eher Thriller (je nach Blutrünstigkeit mag dies eine sadistische oder masochistische Ader verraten). Oder zeigt die Bücherwahl eine Leidenschaft für Politthriller und Agentenromane (wäre die Person also gerne James Bond oder Jack Ryan)? Unsere Lektüre formt unsere Gedankenwelt, aber durch die Auswahl unseres Lesestoffs formen wir natürlich auch unsere Lebenswirklichkeit. Denn, um es mit den Worten des italienischen Medienwissenschaftlers und Schriftstellers Umberto Eco zu sagen: „Wer nicht liest, wird mit 70 Jahren nur ein einziges Leben gelebt haben: Sein eigenes. Wer liest, wird 5000 Jahre gelebt haben.“ Wir selbst entscheiden, welche Leben wir leben wollen, welche Themen also in unserem Denken Platz haben.
Ich bin mir übrigens recht sicher, dass das gleiche auch für DVD-, CD- und Plattensammlungen, für E-Games und alle weiteren Mediensammlungen gilt, aber die sind aus eigener Erfahrung bei den meisten Menschen zu Hause nicht ganz so prominent einsehbar und buchstäblich nicht ganz so schnell zu „lesen“.
Kommen wir also noch einmal auf die Bücherregale zurück. Denn noch auf einer anderen Ebene sind sie für aufmerksame Beobachter:innen ein regelrechtes Schaufenster des Innenlebens: die Art der Anordnung. Da gibt es ja ganz unterschiedliche Herangehensweisen: Manche Menschen sortieren gar nicht und stellen ein neues Buch hin, wo Platz ist. Das kann natürlich bei einem großen Bestand dazu führen, dass man nichts mehr wiederfindet. Andere haben richtiggehende Kategorisierungen: Nach Genres, nach Autor:innen, vielleicht sogar nach Erscheinungsjahr. Wieder andere sortieren nach Größe oder sogar nach Cover-Farben! Wo Praktikabilität aufhört und eine Pathologie anfängt, möchte ich hier nicht beurteilen. Die Grenzen zwischen Spleen und Organisation sind hier sicher fließend. So oder so verrät die Anordnung uns aber etwas über diejenigen, die die Bücher so hingestellt haben: Sind sie organisiert oder chaotisch, sind sie eher ästhetische oder eher semantische Typen? Ist ihr Denken eher visuell oder eher verbal strukturiert?
Stehen auffällig positioniert Klassiker der Weltliteratur, gibt es goldgeprägte Schmuckbände oder in Leder gebundene Folianten? Sind die Besitzer:innen also nicht nur literaphil sondern auch bibliophil? Oder sind sie ‚Poser‘, die durch große Namen und Titel oder auffällig positionierte Kunst-Bildbände einen Hauch von Intellektualität suggerieren wollen, genau wissend, dass die Bände Besucher:innen ins Auge stechen und beeindrucken?
Ich könnte noch lange weitermachen, aber ich glaube, der Punkt ist deutlich geworden: Bücherregale können bewusste wie unbewusste Einblicke in den Charakter und die Gedankenwelt ‚ihrer‘ Menschen geben. Die Bücher bieten, Rücken an Rücken, eben doch die Möglichkeit an ‚hinter die Stirn‘ zu gucken.
Wer es also noch nie ausprobiert hat, dem kann ich es nur empfehlen: Beim nächsten Besuch mal den Blick schweifen lassen und überlegen, was die Titel und ihre Anordnung denn möglicherweise so über die Gastgeber:innen aussagen. Und falls man sich selbst mal fremd geworden ist, gefangen in den Zwängen und Verpflichtungen des Alltags, kann man sich an den eigenen Bücherregalen wiederfinden – was bei anderen funktioniert, kann ja auch bei einem selbst funktionieren! Was sagen meine Bücher über mich?
Flemming N. Feß
Flemming N. Feß ist auf seinem Lebensweg schon weit in Deutschland herumgekommen. Im kult Westmünsterland ist er als Kurator für Sonderausstellungen zuständig. Den gebürtigen Schleswig-Holsteiner begeistert alles, was eine spannende Geschichte erzählt. Seine Freizeit verbringt er bevorzugt im Kino – oder mit einem guten Buch. Wenn er sich aber nicht gerade in ferne Welten entführen lässt, erkundet der Medienwissenschaftler und Historiker gerne in guter Gesellschaft unterschiedlichste Craftbeer-Stile. Als Liebhaber von Puppentrick ist er zudem die Hand und Stimme hinter der Sockenpuppe Rock McSock.
