Straßen-Gedanken

von Gregor Greve

Kultur und Leben

Beruflich auf der Pendelstrecke oder auf dem Weg in den Urlaub - wenn man länger auf deutschen Straßen unterwegs ist, laden das stetige Vorüberziehen von Mittelspurmarkierungen und Seitenstreifen manchmal ein zu einer Meditation über das Stück Asphalt, welches man vor sich durch die Windschutzscheibe betrachtet.

Blitzartig entfaltet sich vor dem inneren Auge ein ganzes Netz an Assoziationen zu Straßen, die sich über die Jahre im Gedächtnis festgesetzt haben. Wie war das doch gleich? Straßen-Songs?  Nein, ich meine hier nicht irgendwelche –  mal besseren, mal weniger guten –  Interpretationen von Knocking on Heavens Door, die in deutschen Einkaufsstraßen zum Besten gegeben werden. Es geht vielmehr um Songs, die die Straße selbst thematisieren! Die Bandbreit ist riesig, heiter beschwingt wie der Beatles-Klassiker Penny Lane, sehnsuchtsvoll wie On the Road again (Willie Nelson) über einfach super-entspannt wie Road Trippin der Red Hot Chili Peppers bis hin zum düster/melancholischen Streets of Philadelphia (Bruce Springsteen).

Die Musik, daran besteht kein Zweifel, hat in der Straße schon oft ein Thema gefunden. Aber nicht nur dort. Die Gedankenreise geht noch weiter. Wie war das doch gleich? Studium… Literatur… ach ja: Jack Kerouac mit seinem bahnbrechenden Roman On the Road einem der Schlüsselwerke der Beatliteratur ... Von einem romantisierten modernen Abenteuer ‚auf der Straße' ist der Verfasser dieser Zeilen bei seinen Fahrten meist weit entfernt.

Gerade bei lange Fahrten kommt man schon ins Schmunzeln und malt sich aus, wie aus dem Lautsprecher Bandit an Rubberduck quäkt. Leider haben gewöhnliche Fahrten nur sehr wenig mit romantisierenden Filme wie Convoy (R: Sam Peckinpah) zu tun, aus dem diese Funk-Unterhaltung stammt. Man kann über diese Tatsache fast schon froh sein, denkt man an Hitcher, der Highway Killer (R: Robert Harmon) und ähnliche Machwerke …

Musik, Literatur, Filme – die Straßen sind überall. Offensichtlich haben sie Künstler:innen unterschiedlichster Schaffensformen beschäftigt.

Immer wieder versuche ich, die Obsession der westlichen Welt in Bezug auf Straßen – insbesondere Autobahnen – zu verstehen. Es scheint so, als ob diese Liebesbeziehung ihren Ursprung im römischen Reich hat. Straßen versinnbildlichten schon damals den Machtanspruch der Römer (ebenso wie gut 2000 Jahre später das Autobahn-Projekt der Nationalsozialisten).

Straßen waren aber darüber hinaus auch Lebensadern des Handels. An ihnen entwickelten sich Siedlungen und Städte. Menschen kamen miteinander in Kontakt und Reisezeiten verkürzten sich erheblich. Jeder, der gern abseits der Wege wandert, erfährt am eigenen Leib, wie mühselig es ist, querfeldein Strecke zu machen. Gleichzeit bringen Straßen Ordnung für ihre Benutzer:innen in das überfordernde Chaos der Natur. Zugegeben, bei so mancher sich windenden Landstraße fragt sich der Automobilist schon, warum diese nicht einfach nach amerikanischer Sitte gerade durch die Flurlandschaft gebaut wurde, aber diese raumplanerischen und naturschützerischen Aspekte sollen an dieser Stelle außen vor bleiben.

Verstörender ist bei genauer Betrachtung, dass Straßen neben einer – vermeintlichen –   sozialen Erhöhung der Gesellschaft im Ganzen gleichzeitig auch eine innere soziale Abgrenzung symbolisieren. ‚Auf der Straße leben' ist – sozial gesehen – so ziemlich das unterste Ende.

Während ich über nordwestdeutsche Autobahnen fahre, auf die Straße konzentriert und dennoch die Vor-und Nachteile dieser modernen Errungenschaft abwägend, beschleicht mich so langsam der Druck, in die Zukunft zu denken. Welche Entwicklung neuer Transportwege wird die derzeitige Corona-Situation auslösen? Einen Vorgeschmack sind die eilends errichteten vergrößerten Fahrradwege in deutschen Großstädten. Werden Straßen in Zukunft nur noch Städte verbinden und aus dem Stadtbild selbst verschwunden sein? Also einen Imagewandel von der Projektionsfläche von Fernweh und Abenteuer hin zur Ikone lokalen Lebens vollziehen?

Während die Gedanken schweifen, komme ich allzu häufig im Hier und Jetzt an und werde in meinem Vorwärtsdrang jäh durch die roten Bremslichter am Ende des Staus gebremst. Wieder einer dieser kontemplativen Momente, die dazu einladen, die Gedanken schweifen zu lassen… Allerdings fällt dem Schreiber dieser Zeilen dazu spontan nur der Film Superstau (R: Mannfred Stelzer) ein… keine Sternstunde deutscher Filmkunst. Aber vielleicht ist es auch gar nicht verkehrt, ab und an am Steuer in die Gegenwart zurückgeholt zu werden. Zu stark abschweifende Gedanken können schließlich gerade dort sehr ungemütlich werden.

Gregor Greve

Nach verschiedenen Stationen an deutschen Museen hat es den gebürtigen Kieler ins Münsterland verschlagen. Neben der Betrachtung und Analyse guter Filme ist das Filmemachen eine seiner Leidenschaften. So ist es nicht verwunderlich, dass der Anglist und Medienwissenschaftler der Mann hinter der Kamera des kult-YouTube-Stars Rock McSock ist. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit dem Sammeln (und Spielen) von E-Gitarren, der Unterstützung seines Heimatvereins Holstein Kiel und Konzertbesuchen verschiedenster Stilrichtungen.

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