Einen „Toast“ auf Mondrian

von Nadine Schober

Kultur und Leben 

Wie auch im digitalen Raum Lust auf Kunst und Kultur gemacht werden kann, hat uns die Corona-Pandemie eindrücklich vor Augen geführt. Social Media-Plattformen werden längst (nicht nur von Kultureinrichtungen) als Präsentationsfläche für Zielgruppen aller Art entdeckt. Bisweilen können dabei schon einfache Mittel und Wege ganz unverhoffte Begeisterungsstürme auslösen.

Im Sommer 2018 postet die Bloggerin und Historikerin Marie Sophie Hingst aus einer Laune heraus unter dem Hashtag „#KunstGeschichteAlsBrotbelag“ ihre Brotkreation aus Heidelbeeren, Käse und Tomate frei nach Piet Mondrians Werk „Komposition mit Rot, Gelb, Blau und Schwarz“. Völlig überraschend startet damit ein Twitter-Phänomen und der Hashtag landet innerhalb weniger Tage auf Platz eins der deutschen Twitter-Trends. Im März 2019 erscheint im Dumont-Verlag ein Buch der Initiatorin mit einem „Best-of“ geposteter Kunst-Stullen eifriger Mitstreiter: innen. Darunter Neuinterpretationen von Meisterwerken wie Gustav Klimts „Der Kuss“ aus Brombeeren, Karotten, Lakritz, Gurkenkernen, Nutella, Honig, Senf und Quark; Leonardo da Vincis „Das letzte Abendmahl“ mit Gummibärchen, Sour Cream und Marmelade und Jan Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“ aus Fleischwurst, Pflaume und Birne auf Vollkornbrot mit überzeugender TicTac-Perle. Die Kreationen sind nicht nur eine Augenweide, sondern ganz eindeutig auch überraschende Geschmacksexplosionen.

Hier geht es für die Brotkunstpioniere um Inspiration und Interpretation oder einfach um originelle Ideen und ihre Umsetzung kombiniert mit einer großen Portion Freude am Ausprobieren. Die Begeisterung einer breiten Öffentlichkeit gelingt vor allem mit einer niedrigen „Hemmschwelle“: sich den Stilrichtungen der Kunst mit Besteck und Belag zu nähern, statt Auge in Auge in Galerien und Museen. Wenn es am Ende nicht zum erwünschten Kunstgenuss kommt, dann bleibt dem neugierigen Geist die Auseinandersetzung mit Ressourcen und Lebensmittelver(sch)wendung oder einfach ein fantasievolles Pausenbrot – der Kühlschrank als unerschöpfliche Quelle an Kunstmaterial oder eine besonders einfallsreiche Form der Resteverwertung. Frei nach der Methode „trial and error“ werden beim Experimentieren mit Konsistenzen und Farben auch die Sinne geschärft und der Blickwinkel auf Nahrungsmittel verändert, wenn man im Schaffensrausch im Apfelrot des „Elstar“ den perfekten Farbton für Klimts Kuss- oder Vermeers Perlenmädchenmund entdeckt …

Der Hashtag ist laut Hingst als Versuch zu verstehen, das Internet als Ort für kleine Formen und große Fragen der Kunst ernst zu nehmen und bezeugt ihrer Meinung nach, wie lebendig Kunst und Kunstgeschichte sein kann. Lebendigkeit und vor allem Kreativität vermitteln die Brotkunst-Adaptionen in ihrer Vielfalt an Materialien und Techniken allemal. Die einfallsreichen Marmeladenbrote, Käsestullen und Wurstschnitten werden detailverliebt gecremt wie bei Vincent van Goghs „Sternennacht“ mit Marmelade, Quark und Senf, Heidelbeeren und gelbem Banane-Paprika-Mond, akkurat geschnitzt wie bei Keith Harrings „bellendem Hund“ aus Camembert auf Tomatenmark oder geduldig arrangiert wie das Käse-Tetris-Toast mit Balsamico in Anlehnung an Paul Klees „Zeichen in Gelb“. Dabei kommen diverse Kunstrichtungen auf den Tisch. Von jungsteinzeitlichen Felsmalereien aus der Höhle von Lascaux, kreiert aus Nuss-Nougatcreme, Marmelade und Frischkäse auf Vollkorntoast bis hin zur Gegenwart mit minimalistischen Versuchen in Verhüllungskunst frei nach Christo und Jeanne-Claude oder in Banksys Street-Art-Stil des „Rage, Flower Thrower“ freestyle-gestreuselt auf Butterbrot. Am Ende zählt für die Teilnehmer:innen vermutlich auch das Wagnis der Präsentation und der Reiz des Feedbacks.

Egal wie aufwändig oder clever die Umsetzungen geraten sind, sie bieten für das Publikum zunächst einmal eine willkommene Abwechslung im Alltag und Spaß beim Anschauen, ganz zu schweigen von der Vorstellung über den fragwürdigen Genuss in einige Kreationen hineinzubeißen. Gleichzeitig regt der Ehrgeiz vielleicht zur Recherche nach Motiven für eine eigene Toastkreation und die Auseinandersetzung mit Kunstwerken, Künstler:innen oder auch ihrer Geschichte an. Mich zumindest hat vor allem der Vergleich der Brotwerke und ihre Nähe zum Original angetrieben und dazu veranlasst, bei einigen auch gern mal etwas länger in der Netzkultur hängen zu bleiben.

Im März 2020, der Phase des ersten nahezu weltweiten Corona-Lockdowns, setzt sich ein ganz ähnlicher Trend durch. Mit ein wenig mehr persönlichem Einsatz aber nicht minder erfolgreich gestaltet sich die Gemälde-Adaption als Selbstinszenierung oder dem, was der eigene Haushalt so zu bieten hat; Mitbewohner:innen und Haustiere inbegriffen.  Das J. Paul-Getty-Museum in Los Angeles ruft, ebenfalls auf Twitter und Instagram, zur „#GettyMuseumChallenge“ auf, wobei mit drei Haushaltsgegenständen ein berühmtes Kunstwerk nachgestellt werden soll. Vorreiter aus den Niederlanden und auch den USA gab es wohl, aber die Reichweite des Getty-Museums mit über einer Million Follower lassen den Trend „viral gehen“. Rund 100.000 Menschen weltweit folgen dem Aufruf. Das Improvisationstalent der begeisterten „Recreation-Artworker“ ist bemerkenswert. Auch hierzu erscheint 2020 eine Publikation: „Off the Walls: Inspired Re-Creations if Iconic Artworks“.

In gewisser Weise bezeugt die Begeisterung für diese Trends die Suche nach Zerstreuung ganz allgemein und im Besonderen in ungewissen Lebensphasen. Andererseits aber vielleicht auch die Suche nach den Grenzen der Kunst. Darf Brotbelag Kunst sein? Darf man Kulturgüter von großer Bedeutung mit alltäglichen Dingen oder den eigenen Haustieren neu schaffen? Wie dem auch sei. Der kunstvolle Brotbelag oder die Inszenierungen der Gemälde haben es geschafft, durch die neuen Medien ein wenig klassische Bildung in den Fokus einer breiten Aufmerksamkeit zu rücken und im besten Fall auch Denkanstöße zu liefern. Vielleicht nicht gerade auf die Art, wie das in Museen und Galerien geschieht, aber das Internet scheint ein Ort zu sein, an dem Kunst und Kultur ein weiteres Zuhause gefunden haben, gemeinsam ge- oder erlebt werden und dem Alltag ein wenig Würze verleihen.

Nadine Schober

Nadine Schober nahm über das Haldern-Pop-Festival 2006 Fühlung mit der Region auf. Zwei Jahre später startete sie nach ihrem Studium in Hamburg ihr Volontariat im Bocholter Textilmuseum. Nach gut einem Jahrzehnt hat sie dieses Fleckchen Erde zu schätzen gelernt. Vor allem Grenzregionen wecken das Interesse der Ethnologin. Die gebürtige Mecklenburgerin wagt dabei stets einen Blick über den Tellerrand. Ob Kulinarisches, sprachliche Eigenheiten oder Ökolandbau – ihre Interessen sind breit gefächert. Poetry Slam, Street Art und Flohmärkte lassen ihr Herz höherschlagen. Im kult Westmünsterland arbeitet sie im Archivteam des historischen Archivs und im Kreisarchiv Borken.

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