Warum jede:r Sherlock Holmes kennt

von Flemming N. Feß

Kultur und Leben 

Neulich habe ich ein Buch gelesen. Soweit nichts Neues, das kommt häufiger vor. Diesmal hat meine Lektüre das Feld der Kunstgeschichte gestreift und dabei war mehrfach von einem „Kanon der Malerei“ die Rede.  Das hat mich stutzig gemacht. Zwar wurde nicht behauptet, es gäbe einen klar definierten Standard, wer nun zum Kanon gehöre und wer nicht, sondern der Begriff wurde eher als Behelfssynonym verwendet, aber dennoch. Etwas in meiner Erinnerung regte sich. In Schleswig-Holstein gehörte ich zu einem der ersten Jahrgänge mit einem Zentralabitur – nicht die eigenen Lehrkräfte stellten die Prüfungsaufgaben, sondern diese wurden von zentraler Stelle erteilt. Eines der Schwerpunktthemen im Fach Deutsch in meinem Abiturjahr war die Frage nach Sinn und Bedeutung von Literatur und damit verbunden, ob es einen definierten deutschen Literaturkanon geben sollte oder nicht. Das ist schon lange ein feuilletonistisch schwer umkämpftes Thema: Gibt es Bücher, die jeder gelesen haben sollte?

Als Schüler, daran erinnere ich mich genau, hatte ich dazu eine klare Meinung. Aber inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Sollte es eine Vorgabe geben, was jeder Mensch kennen sollte? Das ist keine einfach zu beantwortende Frage. Zweifellos: Zwänge sind immer irgendwie doof. Und niemand wird ein besserer Mensch, weil er ein bestimmtes Werk gelesen hat oder eben ein anderes nicht. Einen Kanon zu definieren heißt ja nicht nur, bestimmte Namen einzuschließen, sondern vor allem auch, sehr vieles andere auszuschließen! Das öffnet vielen Übeln Tür und Tor: von systematischer Diskriminierung bis zu Tendenzenbildung und Deutungshoheiten. Das Thema ‚Kanonisierung' war schon in der Antike ein heißes Eisen, als es darum ging, einen Kanon für die Heilige Schrift der neuen Religion namens Christentum zu finden. Im Verlauf der ersten Jahrhunderte nach Christus entstand in einem komplexen Prozess die Bibel, wie sie jetzt ist. Zahlreiche andere Texte und ganze Evangelien schafften es jedoch nicht – sie bilden heute das, was die Kirche die ‚Apokryphen' nennt. Wieso haben es die einen Texte geschafft, von Millionen von Menschen als heilige Wahrheit verstanden zu werden, andere nicht? Ich bin mir sicher, dazu wird geforscht und es gibt viele Antworten. Es gibt sogar jenseits seriöser Forschung, soweit ich weiß, einige Verschwörungstheorien dazu.

Aber zurück zu näherliegenden Kanon-Bildungen. Wenn wir definieren, welche Werke (ob Literatur, Malerei oder was auch immer) den Kanon bilden, dann verknappen wir die Kulturgeschichte massiv, nämlich um alles, was darin nicht vorkommt. Das kann nur jemand wollen, der in Vielfalt und Uneindeutigkeit eine Bedrohung sieht. Natürlich geht es den Befürworter:innen von Kanon nicht darum! Vielmehr wollen sie einen Referenzrahmen schaffen, der den jeweiligen Kern (die Kunsttradition, die Sprache usw.) schützt und erhält. Kulturerhalt ist fraglos immer gut, aber ob das Mittel das richtige ist …

Referenz allerdings führt mich zu einem weiteren Gedanken. Wir alle referenzieren im Alltag ständig. Auf Filme, Bücher, Fernsehsendungen, E-Games, Werbung und unendlich viel mehr. Viele Witze funktionieren nur so. Die Kulturgeschichte ist wiederum voller Referenzen – in Stil und Thema, in bewussten Zitaten oder auffälligen Parallelen. Eine ganze Literaturepoche, die sogenannte ‚Postmoderne', definiert sich durch exzessives Referenzieren. Wie soll das aber gehen, wenn der:die Referenzierende nicht vermuten kann, dass die Adressat:innen die Referenz verstehen, weil sie die Quelle kennen? In einer globalen Gesellschaft, in der jeden Tag mehr neuer Content entsteht, als ein Mensch in seinem ganzen Leben rezipieren könnte, muss das doch ein Stochern im Trüben sein oder nicht? Ein Kanon käme da gerade recht, denn dann gäbe es eine bestimmte Liste von Werken, auf die man sicher referieren könnte, denn jeder müsste sie schließlich kennen.

Ich dagegen glaube, das passiert automatisch und ein fester Standard wäre im Gegenteil sogar eher viel zu starr. Ich bin mir sicher, fast jeder Mensch, den man fragt, weiß, dass Sherlock Holmes ein Detektiv und Long John Silver ein Pirat ist, weiß mit „Luke, ich bin dein Vater“ etwas anzufangen und mit „Ich schau dir in die Augen, Kleines“, kennt die Mona Lisa, hat ein Bild von Marilyn Monroe vor Augen, weiß, dass Geheimagenten Wodka Martini „geschüttelt, nicht gerührt“ trinken und denkt bei „Weekend-Feeling“ an Sahnejoghurt „mit dem cremigen Geschmack“ .  Dafür ist es gar nicht nötig, einen einzigen James Bond-Film gesehen oder die Bücher gelesen zu haben, diesen Joghurt jemals gekauft und gegessen, sich für da Vincis Malerei zu interessieren,  zu wissen, wodurch Monroe bekannt geworden ist, Casablanca oder Star Wars gesehen oder Arthur Conan Doyle und Robert Luis Stevenson gelesen zu haben. Diese Dinge (und natürlich noch unzählig viel mehr) sind offensichtlich so sehr Teil unseres kulturellen Gedächtnisses und so Common Knowledge, dass man auf sie zurückgreifen und davon ausgehen kann, dass alle anderen auch etwas darunter verstehen. Übrigens fallen die gerade genannten Zitate aus den Filmen The Empire strikes back und Casablanca beide gar nicht in diesem Wortlaut in ihren jeweiligen Werken! Ein weiteres Kuriosum des Referenzierens – sie können sich sogar von ihren Wurzeln lösen und weiterentwickeln.

Dass hier eine Liste mit Standardwerken nicht helfen würde, erklärt sich von selbst. Trends und Zeitgeschmack entscheiden, was sich durchsetzt und nur die Zeit kann sagen, was eine dauerhafte Referenz wird und was eine Eintagsfliege bleibt. Als so eine Menge von Common Knowledge war auch das mit dem „Kanon der Malerei“ in jenem Buch, das ich kürzlich gelesen habe, gemeint. Und dennoch: mir ist aufgefallen, dass annähernd alle Künstler männlich waren und aus Europa oder den USA stammten. Es muss doch auch malende Frauen und Malerei außerhalb ‚des Westens' geben und gegeben haben? Von daher, denke ich mir, ist es auch eine Chance, dass sich das Kanonisieren in der Kultur nicht durchgesetzt hat – es gibt umso mehr Gelegenheiten, auch historische Missstände nicht zu wiederholen und weiter zu verfestigen. Ich finde, dieser Gedanke lädt nur umso mehr dazu ein, den Blick zu weiten!

Flemming N. Feß

Flemming N. Feß ist auf seinem Lebensweg schon weit in Deutschland herumgekommen. Im kult Westmünsterland ist er als Kurator für Sonderausstellungen zuständig. Den gebürtigen Schleswig-Holsteiner begeistert alles, was eine spannende Geschichte erzählt. Seine Freizeit verbringt er bevorzugt im Kino – oder mit einem guten Buch. Wenn er sich aber nicht gerade in ferne Welten entführen lässt, erkundet der Medienwissenschaftler und Historiker gerne in guter Gesellschaft unterschiedlichste Craftbeer-Stile. Als Liebhaber von Puppentrick ist er zudem die Hand und Stimme hinter der Sockenpuppe Rock McSock.