Heraus, nicht hinein, verdammt!

von Flemming N. Feß

Kultur und Leben 

Vor knapp sieben Jahren sorgte eine 17jährige Schülerin in ganz Deutschland für einen Aufreger, indem sie auf Twitter das Schulsystem anprangerte. Sie schrieb: „Ich bin fast 18, aber ich hab keine Ahnung von Steuern, Miete und Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.“ Das hat eine bildungspolitische Debatte losgetreten, die zwar (soweit ich weiß) im Sande verlaufen ist, aber nichts desto trotz öffentlich stark wahrgenommen wurde. Warum komme ich aber jetzt mit so alten Kamellen um die Ecke – insbesondere, da doch die Jahreszeit des „Kamelle“-Werfens gerade vorbei ist? Ich will mich nicht über den Sinn und Unsinn unseres Schulsystems mit seinen Stärken und Schwächen auslassen. Das ist nicht mein Metier. Jede:r, der/die das erste Mal eine Steuererklärung macht, wird sich wie diese Schülerin damals wünschen, er/sie hätte einmal gezeigt bekommen, wie das überhaupt geht und worauf dabei zu achten ist. Überhaupt muss ich dabei immer an den „Steuersong“ der Gerd-Show denken, wo es irgendwann heißt: „Ich zum Beispiel habe einen Chauffeur, da kann ich mir das Steuern sparen.“ Aber ich schweife ab.

Mich bringt dieser Tweet zu etwas, das den Kern von Umgang mit Kultur betrifft: der Interpretation. Denn genau das tun wir jedes Mal, wenn wir ein Kulturerzeugnis rezipieren: wenn wir lesen, fernsehen, Musik hören, Kino oder Theater oder auch ein Museum besuchen. Wir nehmen etwas in uns auf und verarbeiten es dort für uns – eine Analyse und Interpretation, wenn auch meist unterbewusst. Und erst das ermöglicht es uns, damit irgendwas anzufangen, es mit uns in Beziehung zu setzen und daran Gefallen oder auch Missfallen zu finden. Und natürlich, um es überhaupt zu verstehen und einzuordnen. Nicht nur Kulturerzeugnisse im engeren Sinne, auch Alltägliches: Aussagen von Gesprächspartner:innen, Äußerungen von Politiker:innen, kleine Gesten im Alltag – hat der Busfahrer vielleicht schlechte Laune oder warum grüßt er so mürrisch ...? All das ist Interpretation.

Oft höre ich, gerade bei der Analyse von Kulturellem, den Satz: „Da kann man ja alles reininterpretieren …“ Darüber ärgere ich mich dann. Denn das kann man eben nicht! Überhaupt interpretiert man nicht ‚hinein‘! Außer bei abstrakter bildender Kunst, wo es ja ggf. gerade der Sinn ist, dass das Kunstwerk zur Projektionsfläche für die eigenen Gedanken der Betrachtenden wird. Für alles andere, von Politiker:innenreden bis zu Filmen, geht es um das ‚Heraus‘-interpretieren. Was steht zwischen den Zeilen? An welche Diskurse knüpft das an? Wieso und mit welcher Absicht? Man kann nur das ans Licht interpretieren, das unterschwellig schon da ist. So gesehen gibt es bei der Interpretation nämlich tatsächlich ein objektives ‚Richtig‘ und ‚Falsch‘: Es geht um eine kritische Einordnung, nicht darum, irgendwelche haarsträubenden Querverweise zu eigenen Ideen und Vorstellungen zu generieren! Das wäre tatsächlich ‚hinein ‘. Kann man auch machen, ist dann aber Missbrauch. Zugegeben, auch das passiert täglich überall auf der Welt, im Kleinen wie im Großen: bei persönlichen Streits genauso wie in der internationalen Politik oder auch nur deren Deutung (das haben die letzten Jahre uns durch Debatten über ‚Fake News‘ und Co und Schlachtgesänge wie ‚Lügenpresse‘ ja sehr klar vor Augen geführt). Deshalb verärgert mich der kulturfeindliche Vorwurf des ‚Reininterpretierens‘. Und deshalb glaube ich, ist es auch wichtig, das korrekte Interpretieren immer wieder zu üben und dafür zu sensibilisieren. Darum ist es vielleicht doch nicht so falsch, in der Schule Analysen zu üben. Und letztendlich ist vielleicht gerade das eine der Kernfunktionen von Kultur überhaupt: Eine Übungsfläche zu bieten für die kritische Auseinandersetzung. Denn das richtige Interpretieren will gelernt und trainiert sein.

Natürlich, das wird jeder eingestehen, der sich mit der Analyse einer kulturellen Ausdrucksform intensiv befasst hat, kann man sich eine Gattung auch ‚kaputtinterpretieren‘. Wer viel und kritisch liest, entwickelt ein sprachliches Gespür, durch das sprachlich weniger ausgefeilte Texte oft mit weniger Freude gelesen werden. Wer sich mit Literaturanalyse, Filmanalyse, Theaterkritik usw. intensiv befasst, erhält einen tieferen Einblick, läuft aber auch Gefahr, dass der Blick auf die Form den Blick auf den Inhalt verstellt und die Gefangennahme durch die Narration nicht mehr ohne weiteres gelingt. Aber auch hier gibt es Mittel und Wege, sich bewusst wieder vom Zauber einfangen zu lassen – und vielleicht sogar noch intensiver, weil man die Tricks der Magier:innen bemerkt und dadurch gleich auf mehreren Ebenen involviert ist. Nicht mehr, ob das Kaninchen im Zylinder wirklich weg sein wird, sondern genauso, ob der Trick funktioniert oder es Holperer gibt.

Wer das nicht durchschaut, bekommt vielleicht eine gute Show. Aber er riskiert auch, belogen zu werden oder einem Irrtum aufzusitzen. Bei einem Zaubertrick ist das egal, wenn es um eine fundierte Einordnung der aktuellen Nachrichten geht, aber unter Umständen fatal. Und selbst vom Feld internationaler Politik weg und zurück in unseren Alltag ist es finde ich immer besser, Dinge richtig einordnen zu können. Nicht zuletzt im Miteinander. Wie viele Streits könnten vermieden werden, wenn man die tatsächliche Intention des Gegenübers „herausinterpretieren“ kann und sich bewusst ist, wie viel man „hineininterpretiert“ und wie. Deswegen kann ich in Bezug auf Interpretation nur immer wieder mit Nachdruck sagen: „Heraus, nicht hinein, verdammt!“ Und das lässt sich denke ich nun mal mit Kulturrezeption aller Art am besten trainieren. Und am Ende, wer weiß, hilft das vielleicht sogar für die Steuererklärung.

Flemming N. Feß

Flemming N. Feß ist auf seinem Lebensweg schon weit in Deutschland herumgekommen. Im kult Westmünsterland ist er als Kurator für Sonderausstellungen zuständig. Den gebürtigen Schleswig-Holsteiner begeistert alles, was eine spannende Geschichte erzählt. Seine Freizeit verbringt er bevorzugt im Kino – oder mit einem guten Buch. Wenn er sich aber nicht gerade in ferne Welten entführen lässt, erkundet der Medienwissenschaftler und Historiker gerne in guter Gesellschaft unterschiedlichste Craftbeer-Stile. Als Liebhaber von Puppentrick ist er zudem die Hand und Stimme hinter der Sockenpuppe Rock McSock.