Jim Knopf wireless

oder: Warum es eventuell doch nicht immer klug ist, komplett „schnurlos“ zu sein

von Gregor Greve

Kultur und Leben

Sören Kierkegaard schrieb einmal: „In den Kindern erlebt man sein eigenes Leben noch einmal, und erst jetzt versteht man es ganz.“ Zweifellos spricht der dänische Philosoph des frühen 19. Jahrhunderts wahre Worte, allerdings bezweifele ich doch stark, dass Kierkegaard im frühen 21. Jahrhundert noch zu genau derselben Erkenntnis gekommen wäre. Natürlich durchleben wir mit unseren Kindern unsere eigene Jugend noch einmal und erkennen womöglich auch eigene Wesenszüge wieder. Wir sind bestrebt, unseren Kindern unseren Erfahrungsschatz weiterzugeben – nicht zuletzt ist dieser ja auch das Geheimnis des Siegeszugs der menschlichen Spezies. Was allerdings nicht in diese Erkenntnis Kierkegaards passt, ist ein Erlebnis, welches ich schon vor einigen Jahren machen durfte…

Voller Vorfreude entdeckte ich damals in der Vorankündigung des Kinderprogramms im Fernsehen „Jim Knopf“. An dieser Stelle möchte ich nicht erneut die Diskussion anfeuern, ob es sich bei dem zugrundeliegenden Roman von Michael Ende, diesem Klassiker der Kinderliteratur, um einen rassistischen Text handelt oder nicht. Mich erinnern Jim und sein Freund Lukas, der Lokomotivführer, vielmehr an meine eigene Kindheit, an die Marionetten der Augsburger Puppenkiste mit ihrer Adaption dieses Stoffes. Und so war ich also voller Vorfreude, meinen Kindern mit der gemeinsamen Betrachtung meine eigene Kindheit näher zu bringen. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war der Umstand, dass mir nicht ein etwas klappriger Lukas der Lokomotivführer begegnete, dessen Beine im Gehen zu keiner Zeit den Boden berühren und bei dem sich während des Sprechens die Arme durch dünne Fäden hoch und runter bewegen während der Kopf mit der unbeweglichen Holzmimik sich leicht zur Seit neigt.

Nein! Zu meinem großen Entsetzen handelte es ich um eine computergenerierte Animationsversion meines Kindheitshelden. In flüssigen Bewegungen – und natürlich ohne Fäden – bewegte sich dieser in einer schnell erzählten „actiongeladenen“ Geschichte (an deren Romantreue ich unabhängig davon zweifle, aber darum geht es hier nicht) durch die Handlung. Was war aus der Ikone meiner Kindheit geworden? Wo waren die Marionetten, das Meer aus blauer Müllsackfolie und die etwas leiernde, aber ohrwurmverdächtige Musik? Ganz nebenbei sei bemerkt, dass die „digitalisierte“ Version meinen Kindern durchaus gefiel. Ich hingegen wollte diese neuen Gegebenheiten nicht einfach so hinnehmen und begab mich in den Tiefen des Internets auf die Suche, um die Umstände, die zu dieser Neuausrichtung des Kinderfernsehens führten, zu ergründen. Dort war zu lesen, dass sich der Programmgeschäftsführer des KIKA einmal dahingehend äußerte, dass die Ausstrahlung einer Marionettentheater-Aufführung nicht mehr zeitgemäß und dass keine regelmäßige Ausstrahlung geplant sei. Nicht mehr zeitgemäß, frage ich mich, was soll das heißen? Was genau ist nicht mehr zeitgemäß an der Inszenierung einer Geschichte mit Puppentrick? In einer ersten Reaktion sucht man natürlich die „Schuld“ bei sich selbst. Ist dies einfach nur Form einer Kulturkritik eines älter werdenden Literaturwissenschaftlers? Sollte man nicht neuen Formaten eine Chance geben und über den eigenen Schatten springen (ganz getreu dem alten Marketing-Spruch: Der Wurm muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler)? Natürlich haben neue Adaptionen von Stoffen immer wieder Berechtigung. Viele Klassiker sind schließlich dutzende Male neu interpretiert worden, daran ist nichts auszusetzen. Aber nur wegen der Präsentationsform? Nach einer Weile der kontemplativen inneren Einkehr bin ich zu einer Entscheidung gekommen: Was kann falsch daran sein, Kinder mit einer anderen Erzählweise zu konfrontieren? Wäre es nicht sogar eine Stärke des Programms, auch bei Sehästhetik auf Vielseitigkeit zu setzen und sogar die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens (zu dem der KIKA schließlich auch gehört), eine Programmvielfalt zu zeigen, auch in Bezug auf die Darbietungsform, statt immer gleiche Zeichentrick-Formate aneinanderzureihen? Der Kern der Aussage der Geschichte um den Waisenjungen Jim und seinen Freund Lukas bleibt sowieso davon völlig unberührt. Bei weiterer Recherche lässt sich zudem lesen, dass in den letzten Jahren (vor der Pandemie) die Aufführungen in Augsburg fast jährlich neue Besucherrekorde feierten. Ein Umstand, der sich so einfach nicht erklären lässt, wenn man behauptet, Marionettentheater entspreche nicht mehr den heutigen Sehgewohnheiten. Oder ist es vielleicht eine Reaktion auf das Ausbleiben der Ausstrahlungen?

Da der geneigte Fernsehzuschauer – außer dem Verfassen eines geharnischten Zuschauerbriefes – an der Gesamtsituation sowieso nicht viel ändern kann, gab es glücklicherweise für mich aus dieser frustrierenden Situation eine individuelle Lösung. Der Griff zur Augsburger Puppenkiste auf DVD brachte schnell „das Original“ auf den heimischen Bildschirm zurück – und ganz nebenbei gefiel diese dem Nachwuchs sogar noch besser.

Gregor Greve

Nach verschiedenen Stationen an deutschen Museen hat es den gebürtigen Kieler ins Münsterland verschlagen. Neben der Betrachtung und Analyse guter Filme ist das Filmemachen eine seiner Leidenschaften. So ist es nicht verwunderlich, dass der Anglist und Medienwissenschaftler der Mann hinter der Kamera des kult-YouTube-Stars Rock McSock ist. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit dem Sammeln (und Spielen) von E-Gitarren, der Unterstützung seines Heimatvereins Holstein Kiel und Konzertbesuchen verschiedenster Stilrichtungen.

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